In Kursen zur Bibel mache ich regelmässig folgende Beobachtung: Dass sich die Vorstellung von Gott im Zuge des Erwachsen-Werdens ändert, ist unumstritten. Und diese Entwicklung wird in der Regel positiv bewertet. Wenn es aber darum geht, auch die Bibel mit «erwachsenem» Blick zu lesen, löst dies bei den Kursteilnehmer:innen nicht selten Ängste und Vorbehalte aus: Was macht es mit meinem Glauben, wenn die Bibel nicht «Recht» hat?
«Und die Bibel hat doch Recht!» – oder etwa nicht?
Der deutsche Journalist und Sachbuchautor Werner Keller fasste mit diesen Worten 1955 seine Erkenntnisse zusammen. In seinem gleichnamigen Buch versuchte er mittels archäologischer Funde zu beweisen, dass das Alte Testament «wahr» ist. In der Fachwelt wurde ihm seither vielfach widersprochen; die angeführten Funde sind alles andere als eindeutig und vermögen die biblischen Schriften archäologisch nicht so einfach zu stützen.
Der Kern der Auseinandersetzung liegt meines Erachtens weniger im (Nicht-)Vorhandensein von archäologischen Beweisen als vielmehr in der Frage, was «Recht haben» im Zusammenhang mit der Bibel genau meint: Geht es darum, dass sich alles genau wie beschrieben zugetragen hat?
Diese Frage zielt darauf ab, was nun «wahr» ist. Wobei auch der Begriff «Wahrheit» alles andere als eindeutig ist: Sind die biblischen Texte «wahr», weil sie historische Fakten korrekt wiedergeben? Oder sind sie «wahr», weil sie etwas über Gott, die Menschen und das Leben in dieser Welt aussagen, das von Gläubigen als treffend empfunden wird?
Im ersten Fall gäbe es berechtigte Kritik nicht nur seitens der naturwissenschaftlichen Forschung: So manches kann sich nicht so zugetragen haben, wie es die Bibel berichtet. Der zweite Fall eröffnet dagegen einen Horizont, weiter über die Sinnhaftigkeit und die Bedeutung der biblischen Schriften für das Leben gläubiger Menschen nachzudenken.
Die Bibel ist wahr – die Frage ist aber: inwiefern?
Menschen haben vor hunderten, ja vor tausenden von Jahren Lebenserfahrungen gesammelt und diese gedeutet. Vieles von dem Erlebten haben sie mit «Gott» in Verbindung gebracht. Ihre Geschichten haben sie folgenden Generationen weitergegeben – zunächst mündlich, dann wurden sie nach und nach auch verschriftlicht. Später lebende Menschen haben sich in diesen Lebenszeugnissen wiedergefunden bzw. haben sie darin etwas gefunden, was sie auch für das eigene Leben als wegweisend, als «wahr» erachteten.
So kann «wahr» auch im Sinne von «lebendig» verstanden werden: Die biblischen Texte erweisen ihre Wahrheit darin, dass das in ihnen Erzählte auch für heutige Ohren und Herzen lebendig klingt, anspricht und dem Leben neue Impulse gibt. So gesehen verliert die Bibel nicht an Bedeutung und Wert, wenn in ihr keine rein historischen Tatsachen geschildert werden. Vielleicht könnte man sogar sagen: Die Wahrheit(en) der biblischen Erzählungen sind primär in der Gegenwart zu suchen, in der sie gelesen werden.
Das muss nicht heissen, dass das damals Geschehene völlig belanglos ist; von Bedeutung ist aber in erster Linie, wie die Menschen – damals wie heute – mit dem Leben in all seinen Facetten und Herausforderungen umgehen, worin sie dabei Halt und Orientierung finden und wie das Erlebte (und manchmal auch Durchlittene) sie prägt und weiterbringt. Denn «Wahrheit» hat immer auch mit mir selbst zu tun, ist nichts, das ich völlig unbeteiligt von aussen analysieren und bewerten könnte.
Drei Zugänge zur Bibel – Fernglas, Lupe und Lesebrille
Die Beschäftigung mit der Bibel muss nicht einem platten Entweder-Oder folgen: Entweder gehe ich mit wissenschaftlichen Methoden und kritischem Blick an Bibeltexte heran, oder aber ich lese sie als «Heilige Schrift» ohne das Geschriebene in irgendeiner Weise zu hinterfragen. Verschiedene Perspektiven sind demgegenüber möglich – und wollen durchaus auch miteinander kombiniert werden!
Anhand von drei Sehhilfen lassen sich mögliche Zugänge zur Bibel skizzieren, wobei alle drei sich auch wissenschaftlich begründen und verorten lassen:
Wer sich heute auf biblische Text einlässt, tut gut daran, sich auch über die damalige Zeit und die Umstände der Textentstehung zu informieren. Der Blick in längst vergangene Tage kann durch das Fernglas versinnbildlicht werden: Was weit weg ist, wird dadurch in die Nähe geholt. Konkret steht das Fernglas für einen historischen Zugang. Von Interesse sind in erster Linie die Autor:innen und die (ursprünglichen) Adressat:innen eines Textes.
Es geht darum zu fragen, in welcher geschichtlichen Situation, unter welchen Umständen und mit welchem Ziel ein Text verschriftlicht wurde. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Erzählzeit und die erzählte Zeit nicht unbedingt deckungsgleich sind. Das heisst, dass Autor:innen nicht (nur) über die eigene Zeit berichten, sondern über Geschehnisse, die sich (viel) früher bereits zugetragen haben.
Wer die Lupe zur Hand nimmt, vertieft sich in den Text, wie er nun vorliegt. Mit der Lupe ist ein literaturwissenschaftlicher Zugang angesprochen: Hier geht es darum, das Werk in sich zu betrachten. Auf der Textebene wird analysiert, und es werden Schlüsse gezogen: Welche Personen, Orte und Schlüsselworte kommen vor? Wo zeigen sich Verbindungen dieses Textes zu anderen biblischen Schriften? Was könnte die Aussageabsicht des Textes sein?
Mit der Lesebrille schliesslich wird der vielleicht naheliegendste Zugang angedeutet. Hier geht es um den Leser bzw. die Leserin, also die Person, welche die biblischen Schriften hier und heute liest. Mit dem Begriff «Rezeptionsästhetik» wird in der Wissenschaft der Erkenntnis Rechnung getragen, dass ein Kunstwerk, also auch ein literarisches Produkt wie die Bibel, erst eine (bestimmte) Bedeutung gewinnt im Auge des Betrachters bzw. der Betrachterin.
Die Person des/der Lesenden ist also für das Verständnis der biblischen Schriften von Belang – und dem kann auch wissenschaftlich Rechnung getragen werden. Hierbei lässt sich fragen: Wie kommt ein biblischer Text heute an? Mit welchen Ohren wird er hier gehört? Wie prägen die gegebenen Umstände die Lektüre? Welchen Aspekten des Textes wird Bedeutung beigemessen – und welchen nicht?
Das bewusste Hinzuziehen der genannten Lesehilfen kann entlasten: Ein Zugang ist nicht alles; wird der Bibeltext mit einer dieser Lesehilfen dekonstruiert, muss dabei nicht der ganze eigene Glaube aufs Spiel gesetzt werden. Die Ebenen lassen sich voneinander trennen. Wenn ich gewisse Aspekte einer biblischen Erzählung historisch in Frage stellen muss, so ist das noch kein Grund, sie auch auf der Textebene über Bord zu werfen.
Was sich trennen lässt, kann (und soll) aber auch wieder zusammengefügt werden – wie ein Puzzle: So können sich auf jeder Betrachtungsebene Erkenntnisse ergeben, die mir allesamt den Bibeltext näherbringen und zu einem tieferen Verständnis des Gelesenen beitragen.
Die Bibel als Lebensbegleiterin
Biblische Erzählungen wollen – damals wie heute – ihre Kraft entfalten, welche darin besteht, Leben zu bewegen, Sinn zu stiften und Erfahrungsräume des Glaubens zu öffnen. In diesem Sinne kann die Bibel durch ein ganzes Menschenleben begleiten, von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter. Dass sie dabei Menschen in verschiedenen Lebensetappen auf unterschiedliche Weise anspricht, versteht sich von selbst; denn wie das Leben ist auch der Glaube ein Prozess, eine fortlaufende Entwicklung. Wer spürt, dass die Zeit gekommen ist, eine bestimmte Glaubensgestalt, etwa den Kinderglauben, zu verabschieden, darf gewiss sein: Neue Formen des Glaubens und Lebens wollen entdeckt und erprobt werden…