Zur Verabschiedung von Claudia Mennen
(Abschiedsworte von Daniel Kosch)
Geschätzte Anwesende
Mit kirchlicher Bildungsarbeit habe ich eine lange Geschichte. In dieser Geschichte spielen die Propstei Wislikofen, die katholische Erwachsenenbildung im Aargau und Claudia Mennen eine wichtige Rolle.
Bildung und Propstei: Zauberformel …
Als Leiter des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks war ich in den 1990er-Jahren hier im Haus mit Bibelkursen für Laien wie für Seelsorgende und habe mit Aargauer Erwachsenenbildnern und -bildnerinnen manche Dekanatsweiterbildung gestaltet.
Als Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz haben mich ab 2001 die gut besuchten jährlichen Kirchenpflegetagungen der katholischen Kirche im Aargau beeindruckt, deren zentrales Anliegen das Zusammenspiel im dualen System zwischen staatskirchenrechtlichen Instanzen und pastoral Verantwortlichen ist.
Als Fachperson für Kirchenmanagement habe ich hier ab 2010 den Basislehrgang Kirchenmanagement mehr als 10-mal durchgeführt. Und ich war dabei, als im Zeichen von «WOP» («Wirkungsorientierte Pastoral») das Kürzel «BuP» für «Bildung und Propstei» entstand. Es steht seitdem für die Zusammengehörigkeit und Komplementarität der dezentralen, mobilen und der an Wislikofen gebundenen Angebote. Zugleich stehen WOP und BuP für ein Bildungs- und Kirchenverständnis, das sich dem Spannungsfeld von Geld und Geist stellt und sich zum Vorrang des Evangeliums vor der Buchhaltung bekennt, ohne die finanziellen Realitäten auszublenden.
Als Kollege und Freund von Claudia Mennen habe ich die Entwicklung der Wislikofer Schule für Bibliodrama miterlebt und habe gelegentlich einen ihrer Gottesdienste mitgefeiert. Dabei ist mir aufgefallen, wie sorgfältig Claudia intellektuelle Redlichkeit und emotionale Intelligenz verbindet, und wie sie Treue zum biblischen Text mit radikaler Zuwendung zur menschlichen Existenz mit allem, was uns ausmacht, verknüpft.
Als Kursleiter, Gast und als Beobachter der kirchlichen Bildungslandschaft habe ich wahrgenommen, wie sich das BuP-Angebot weiterentwickelt und dabei den Veränderungen des Bildungsverhaltens und der Kirchenlandschaft Rechnung getragen hat. Parallel dazu hat die Qualität der Infrastruktur wie auch des kulinarischen Angebotes zugenommen.
So entpuppt sich das Kürzel BuP – dank all jener, die es mit Leben und Inhalt gefüllt haben weiter füllen – geradezu als «Zauberformel». Es steht für einen spannenden Mix von
- Dienstleistung für die kirchliche Trägerschaft und ihre diversen Akteure,
- unverzweckter Gastfreundschaft für externe Gruppen,
- unaufdringlicher Präsenz der klösterlich-spirituellen Dimension und
- Angeboten für intensive Vertiefung in Fragen des Glaubens und des Lebens.
… oder nur fauler Zauber?
Viele von Ihnen könnten meiner Skizze weitere Farbtupfer zufügen und die Zauberformel BuP in noch zauberhafteres Licht tauchen. Trotzdem würde bald einmal die Frage auftauchen, ob angesichts des unübersehbaren Rückgangs von Teilnehmenden und der schwierigen Gesamtsituation der Kirche nicht eher von einem «faulen Zauber», als von einer «Zauberformel» die Rede sein müsste.
Warum – so fragen die einen besorgt und die anderen mit kritischem Unterton – warum bleiben die Leute weg? Warum ziehen die Angebote, zieht die Propstei, ziehen Claudia Mennen und ihr Team nicht mehr Leute in ihren Bann? Warum beherzigen immer weniger Kirchenmitglieder den Aufruf «auftreten, nicht austreten» sondern gehen – und das in steigender Zahl?
Eine Kirchenkrise …
Wo von Kirchenaustritten die Rede ist, steht auch das Wort «Krise» im Raum, wahlweise als Missbrauchskrise, Glaubwürdigkeitskrise, Kirchenkrise oder Gotteskrise.
Woran – ebenfalls fast automatisch – der Ruf nach «dringenden Reformen», «innovativen Aufbrüchen» und «Krisenmanagement» anschliesst. Nutzte man – so die unausgesprochene Annahme im Hintergrund – die «Krise als Chance», liesse sich der Rückgang aufhalten, den Pastoralsoziologen neuerdings als «Kernschmelze» bezeichnen. Manche behaupten sogar, man könnte «gegen den Trend wachsen», würde man es nur «endlich richtig machen».
Von da aus ist der Weg zu den Schuldigen nicht mehr weit. Wahlweise sind es
- die Bischöfe, die immer noch wegschauen,
- der «Papst der Enttäuschungen» (Michael Meier),
- Theologinnen und Theologen, die bei gutem Lohn nur noch auf ihre Work-Life-Balance achten,
- das duale System mit seinen Kirchenfürsten im Strassenanzug (Martin Grichting),
- die Ungeduld der Reformerinnen und Reformer oder die Halbherzigkeit der Reformen,
- die Säkularisierung, der Zeitgeist und die «Diktatur des Relativismus» (Benedikt XVI.) oder
- gleich die ganze Gesellschaft.
Und tatsächlich: Die Kirche durchlebt eine tiefe Krise. Und diese ist teilweise selbstverschuldet. Nebst der hartnäckigen Weigerung, sich die menschenrechtlichen und demokratischen Standards einer freiheitlichen Gesellschaft zu eigen zu machen, tragen Faulheit, Trägheit und arrogante Selbstgefälligkeit, Denkblockaden, mangelnder Glaubensmut, Streben nach Machterhalt und Vertuschung des eigenen Versagens, Defizite in Leitung und Management und kommunikative Fehlleistungen zum Desaster bei. Das darf man weder totschweigen noch verdrängen. Dennoch wäre es fatal, aus diesem Grund
- das Gelingende, das Echte, das Glaubwürdige und Überzeugende,
- den grossen Einsatz, Intelligenz und Sachverstand, sowie
- den ernsthaften Glauben und den selbstlosen Einsatz
kleinzureden, von dem im Zusammenhang mit der Zauberformel Bildung und Propstei die Rede war.
… und zugleich weit mehr als eine vorübergehende Krise
Absolut zentral ist es jedoch, die Situation, die oft als «Kirchenkrise» etikettiert wird, in ihrer ganzen Tiefe und Tragweite wahrzunehmen.
Es handelt sich, so der Bischof von Essen, Franz-Josef Overbeck[1]
«nicht um den vorübergehenden Zustand einer Krise […], der behoben werden könnte, sondern […] um einen dramatischen Umbruch […]. Die Krise […] ist kein vorübergehender Ausnahmezustand, der beendet werden kann. Die Kirchenkrise, in der wir stecken, ist und bleibt eine Wirklichkeit. Es geht eben darum, den dramatischen Umbruch, den wir zu bestehen haben, als einen solchen zu begreifen, weil er
viel tiefer geht, als jede Krise. Er berührt nämlich die Wurzeln unseres Selbstverständnisses als Christin und Christ, erst recht als katholische Kirche. Denn vieles, was lange Zeit als unantastbar und unveränderlich galt, steht heute infrage. Wer insgeheim immer noch hofft, irgendwann werde die Krise schon überstanden sein und dann werde sich all‘ das, was früher galt, wieder neu und unverändert ins Recht setzen, erliegt […] einer Illusion».
Was wir erleben, ist eine epochale Transformation des Religiösen, ein tiefgreifender Umbruch mit weitreichenden Folgen. Gelingt die Transformation, ist sie jener einer Raupe vergleichbar, die sich verpuppt und in einen Schmetterling verwandelt. Wo sie jedoch nicht gelingt, hinterlässt sie am Ende nur einen vertrockneten Cocon.
Am Übergang in den «Nachmittag des Christentums»
Der psychologisch und soziologisch gebildete Theologe und tschechische Schriftsteller Tomáš Halík verwendet für diesen Umbruch einen anderen Vergleich[2]. Inspiriert von Überlegungen von Carl Gustav Jung entwirft er das Bild einer Kirche, die – analog zum Lebensweg des Menschen – am «Nachmittag des Lebens […] eine andere […] Aufgabe» hat als in der ersten Lebenshälfte. Während es am «Vormittag» galt, «die äusseren Mauern und Stützpfeiler» zu bauen, seinen «Platz in der Gesellschaft» einzunehmen, eine klare Identität zu entwickeln, die nach aussen vor «verletzenden Übergriffen» schützt (53), hat der Nachmittag des Lebens eine andere Aufgabe:
«den Weg des Geistes, das Hinabsteigen in die Tiefe. Der Nachmittag des Lebens ist ein kairos, eine Zeit, die für die Entfaltung des geistig-geistlichen Lebens günstig ist, die Gelegenheit, den Reifungsprozess seines ganzen Lebens zu vollenden. Diese Lebensetappe kann kostbare Früchte bringen: den Blick von oben, Weisheit, Ruhe, Toleranz […] Eine Nichterfüllung der Aufgabe dieser Lebensetappe […] erzeugt im Gegensatz dazu Rigidität, emotionale Verstimmungen, Ängste, Argwohn, Engherzigkeit, Selbstmitleid» (55).
Zwischen beiden Lebensetappen liegt die «Mittagskrise», deren «Prüfungen» zu bestehen sind, um «darauf vorbereitet [zu sein], sich auf den Weg des Nachmittags des Lebens zu begeben» (54). Und «an der Schwelle zum Nachmittag des Christentums» sieht Halík die Kirche heute, im Übergang zu «einer neuen […] Gestalt» (57). Ein wichtiges Merkmal dieser neuen Zeit ist die Anerkennung der «Tatsache, dass die Säkularisierung keinen Niedergang brachte, sondern eine Transformation der Religion» (60).
Während die kirchliche Doktrin an Bedeutung verliert, gewinnt die «Spiritualität als Leidenschaft des Glaubens» an Bedeutung (210). Entsprechend wandeln sich Auftrag und Sozialgestalt der Kirche. Seelsorge als «geistliche Begleitung der Suchenden» wird zu einem zentralen Dienst, während «das Netz der Pfarrgemeinden immer grössere Risse bekommt […]» (219).
«Der Fluss des Glaubens hat sein ursprüngliches Bett verlassen; die Kirche hat das Monopol auf den Glauben verloren. Die kirchlichen Institutionen haben keine Macht mehr, ihn zu kontrollieren und zu disziplinieren; wenn sie das versuchen würden, würden sie einen weiteren Verlust ihres Einflusses und ihrer moralischen Autorität riskieren» (252).
Für diese Situation schlägt Halík vor, vier Optionen zu verfolgen:
- Die Kirche als pilgerndes Volk Gottes, die Triumphalismus und Klerikalismus überwindet und sich als «Kirche in Bewegung» versteht, bereit, «sich der Diskussion zu stellen, erweitert zu werden» (253ff.).
2. Die Kirche als «Schule des Lebens und […] Schule der Weisheit», die in einer Welt des «religiösen Analphabetismus» eine «Kultur des Dialogs mit Gott und auch der Christen untereinander […] die Verbindung der Theologie mit der Spiritualität, der religiösen Bildung mit der Pflege des geistlichen Lebens» pflegt. (257ff.)
- Die Kirche als «Feldlazarett» (Papst Franziskus), die «sich opferbereit und mutig an die Orte begibt, wo die Menschen physisch, sozial, psychisch und geistig verletzt werden, und versucht, ihre Wunden zu verbinden und zu heilen», sich für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit einsetzt, und dank einem bescheidenen Lebensstil «praktisches Vorbild» ist (259ff.)
- «Geistliche Zentren […], die Orte der Anbetung und der Kontemplation sind, aber auch einen Raum für Begegnungen und Gespräche bieten, in denen man die eigene Glaubenserfahrung teilen kann». Diese «spirituelle(n) Oasen», sollen jedoch keine «Insel(n) der Gegenkultur bilden», sondern die Pfarreien ergänzen (263ff.).
Haben wir schon, wovon andere erst träumen?
Was liegt näher, als bei diesem Plädoyer für «Schulen des Lebens und der Weisheit» und für «geistliche Zentren» an Bildung und Propstei als Startmodell für diese Entwicklungen zu denken? Auch das Plädoyer für die Kirche als «pilgerndes Volk Gottes» und als «Feldlazarett» spricht vielen aus dem Herzen, die für eine synodale, gleichzeitig ehrlich suchende und radikal solidarische Kirche eintreten.
Dennoch wäre es ein Zeugnis von Arroganz und Ignoranz, daraus zu folgern, dass wir in der Schweiz oder im Aargau dank dualem System, Kirchensteuern, gut ausgebildetem Personal und schöner Propstei schon haben oder zumindest haben könnten, wovon Halík für den Nachmittag des Christentums visionär träumt. Denn was wir haben und sind, gleicht realistisch betrachtet vielfach eher der Raupe oder einem vom Austrocknen bedrohten Cocon, der in schönen Momenten Schmetterlinge im Bauch hat.
Die Mittagskrise, die Phase, in der die Raupe sich verpuppt und innerlich aufzulösen scheint, um – wenn alles gut geht – Schmetterling zu werden, hat erst begonnen. Sie wird noch lange dauern und – da wir schon hierzulande und erst recht weltweit nicht eine Raupe, sondern viele sind – ungleichzeitig verlaufen. Nicht allen wird die Transformation gelingen. Und jene, die als Schmetterlinge das Licht der Welt erneut erblicken, werden sehr unterschiedlich sein: Von bunt über lila und regenbogenfarben bis rabenschwarz, von Tagfaltern bis zu Nachtpfauenaugen, von gefrässigen Exemplaren, die sich auf dem Aas niederlassen bis zu harmlosen Zitronenfaltern.
Fünf Punkte zum Abschluss
Worauf es aus meiner Sicht für die kirchliche Bildungsarbeit in dieser Situation ankommt, fasse ich in fünf Punkten zusammen:
- Da das Bestehende noch irgendwie funktioniert und das Kommende noch sehr ungewiss ist, braucht es selbstkritische Ehrlichkeit und Glaubensmut, sich mitten in der Krise der Transformation anzuvertrauen. Kirchliche Bildungsprozesse können beitragen, das zu verstehen und dazu ermutigen, sich nicht ängstlich am Vergehenden festzuklammern, sondern vertrauensvoll loszulassen.
- Das Netz der Pfarreien und Pastoralräume ist immer weniger tragfähig. Es kann vieles, was am Nachmittag des Christentums wichtig wird, schon heute nicht mehr bieten und ist im Bereich kirchlicher Bildung und spiritueller Vertiefung auf Support angewiesen. Das muss strukturelle Konsequenzen haben: Trotz rückläufiger Finanzen und Mitgliederzahlen benötigt die Landeskirche deutlich mehr Mittel von den Kirchgemeinden, um die Mittagskrise zu überstehen. Es macht pastoral wie auch ökonomisch Sinn, die Kräfte deutlich stärker als bisher solidarisch zu bündeln.
- Am Nachmittag des Christentums funktioniert das Modell der Nachwuchskirche nicht mehr und der flächendeckende religiöse Service «von der Wiege bis zur Bahre» kann nicht mehr geboten werden. Kirchliche Bildung muss daher einerseits religiös unbehausten und spirituell suchenden Menschen niederschwellige Zugänge ermöglichen. Anderseits muss sie jenen, die das kirchliche Leben betend, feiernd, sich freiwillig engagierend oder leitend mittragen und mitgestalten, die erforderlichen Kompetenzen vermitteln, und sie in ihrem religiösen Suchen und Finden begleiten. Differenzierte Vielfalt der Angebote und Räume für Experimente sind daher unerlässlich.
- In unserer ökonomisierten Welt neigen wir dazu, zahlenmässige Grösse mit Relevanz gleichzusetzen und Veränderungspotenzial von finanziellen Ressourcen abhängig zu machen. Kirchliche Bildung muss dazu befähigen und ermächtigen, sich auf den Spuren des Evangeliums als kreative Minderheit einzubringen. Die Kirche der Zukunft ist nicht mehr der «volkskirchliche Eintopf» in dem alles Platz hat, sondern biblisch gesprochen Salz, Sauerteig oder kleines Senfkorn, bescheidener und beweglicher, spiritueller und entschiedener als heute.
- In unserer nach-volkskirchlichen Welt brechen christliche Traditions- und Wissensbestände weg. Zurück bleiben religiöse Worthülsen, Floskeln und Feiertage ohne wirklichen Inhalt sowie eine weit verbreitete Sprachlosigkeit. Angesichts des Verdachts, das Christentum antworte auf die Nöte und Ängste der Menschen nur noch mit verbrauchten Geheimnissen, benötigen wir eine kirchliche Bildung, die hilft, «die Kostbarkeit des christlichen Glaubens» neu zu entdecken[3].
[1] Franz-Josef Overbeck, Predigt zu Neujahr 2024, abrufbar unter <https://www.bistum-essen.de/pressemenue/artikel/overbeck-offenheit-fuer-neue-entwicklungen-statt-verklaerung-des-vergangenen>
[2] Tomáš Halík, Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage, Freiburg i.Br. 2022.
[3] Tiemo Rainer Peters, Entleerte Geheimnisse. Die Kostbarkeit des christlichen Glaubens, Ostfildern 2017.