Sein Leben klingt wahrlich wundersam: Geboren in einem Stall, noch in der Krippe besucht von fernen Weisen, als Baby auf der Flucht vor einem, der ihm ans Lebendige will. Später als provokativer Prediger und Heiler aller möglichen Leiden unterwegs, stets umgeben von Bewunderern und Nachfolgerinnen. Die gewirkten Wunder lassen staunen, bewahren ihn selbst aber nicht vor Leid. Am Ende steht das Kreuz; der vermeintliche Messias stirbt einen Verbrechertod und hinterlässt ein verzagtes Grüppchen treuer Seelen. Dass sich aus dem Zusammensein jener Hinterbliebenen eine Dynamik entwickelte, die es bis zur Weltreligion schaffte, war anfangs alles andere als selbstverständlich.
Was war zuerst: der christliche Glaube oder die Überlieferung des Lebens Jesu? So genau lässt sich das schwerlich sagen. Schriftlich festgehalten wurde die Lebensgeschichte Jesu von Nazareth in den Gemeinschaften, die nach seinem Tod voller Überzeugung seine Auferweckung durch Gott verkündeten. Um sich seiner zu vergewissern, wurde die Erinnerungen an Jesu Lebenszeit aufgeschrieben; es entstanden sogenannte Evangelien («frohe Botschaften»). Vier davon sind in der christlichen Bibel zu finden, wobei eine genaue Lektüre klarmacht: Sie erzählen nicht genau dasselbe. Jedes der vier Evangelien setzt andere Akzente, in manchen Punkten widersprechen sie sich gar.
Jesus Christus – Fake oder Faktum?
Verschiedene Zeugnisse eines Lebens
Es gibt verschiedene Theorien, wie die vier Evangelien des Neuen Testaments entstanden sind. Klar dürfte sein, dass sie alle auf mündliche Traditionen zurückgreifen, in denen Jesu Leben in der Erinnerung seiner Nachfolger:innen lebendig gehalten wurde. Ihre Texte schreiben die Autoren nicht für die Ewigkeit, sondern sie hatten jeweils ein bestimmtes Publikum der damaligen Zeit vor Augen. Sie waren bemüht, von Jesus zu erzählen mit Blick auf die aktuellen Fragen und konkreten Themen der eigenen Gemeinde. So interessierte z.B. jüdisch sozialisierte Gläubige in erster Linie der Umgang Jesu mit der Tora und seine Einordnung in die jüdische Geschichtsschreibung. In anderen Gemeinden war das soziale Gefälle zwischen arm und reich, randständig und wohlsituiert stärker Thema, und folglich wurde auch das Leben Jesu besonders unter dem Aspekt erzählt, wie Jesus selbst damit umgegangen ist. Weitere, auch heutige Themen können ihrerseits die Art und Weise prägen, wie und was von Jesus erzählt wird und welches Bild sich Menschen von ihm machen. Gleichwohl bleibt zu bedenken, dass sich das Leben (irgend) eines Menschen nie zwischen zwei Buchdeckel oder auf eine Leinwand bringen lässt.
Jesus Christus – Fake oder Faktum?
Die Geschichte hinter der Geschichte
Allen Evangelien ist gemeinsam, dass sie im Glauben an das eigentlich Unsagbare geschrieben wurden: In Jesus von Nazareth ist Gott selbst auf einmalige Weise greifbar geworden. Und diesen Jesus hat Gott nach dem Tod am Kreuz auferweckt, so dass er nicht mehr tot ist. Auf das Leben Jesu lässt sich kaum mehr anders blicken als im Lichte dieser österlichen Erfahrung seiner Jünger:innen. Was immer aus dem Leben Jesu von Nazareth erzählt wird, trägt den Stempel der Auferweckung. Hinter dieses Ereignis, das selbst keine historisch belegbare Tatsache ist, führt kein Weg zurück. Historische Begebenheiten aus jenem irdischen Leben und Deutungen desselben sind dicht ineinander verwoben und erst recht für Leser:innen mit einem zeitlichen Abstand von 2000 Jahren kaum noch auseinanderzuhalten.
Wenn aber Jesus von Nazareth für Christ:innen bis heute Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubenslebens ist bzw. sein soll, drängen sich doch Fragen auf: Was ist wahr? Welches sind die Fakten? Und hat diese historische Person tatsächlich (so) gelebt?
Fakten und ihre Deutungen
Für eine Vergewisserung bietet sich ein Blick in ausserchristliche Quellen an. Zwar findet man da wenige Einzelheiten über das Leben Jesu, wohl aber Hinweise darauf, dass er als Jude vor 2000 Jahren gelebt und in Jerusalem am Kreuz einen gewaltsamen Tod erlitten hat. Davon berichten unabhängig voneinander ein jüdischer Historiker (Flavius Josephus), ein heidnischer Philosoph (Mara bar Sarapion) und römische Schriftsteller (Plinius der Jüngere, Tacitus und Sueton).
Wenn Fakten nicht bloss «nackte» Tatsachen bleiben sollen, müssen sie gedeutet werden; denn erst so erhalten sie eine Bedeutung. Das Faktum, dass ein Mann namens Jesus gelebt hat, mag das Fundament des christlichen Glaubens bilden, doch um seine lebensverändernde Kraft zu entfalten, bedarf es der weiteren Erzählungen, welche von Jesu Existenz zeugen. Und hier kommen die Menschen ins Spiel, die Zeit seines Lebens etwas mit ihm erlebt haben und ihr Erleben (nicht nur die nackten Tatsachen) in Worte fassten und so weitergaben. Ihre Absicht war es nicht, falsche Informationen (sogenannte «fakes») zu verbreiten, sondern ihren Glauben an Jesus Christus zu begründen:
- Ich war krank und bin in der Begegnung mit ihm gesund geworden.
- In unserer Gesellschaft gab es bestimmte Verhaltensvorschriften, gegen die er sich selbstbewusst gestellt hat.
- In seinem ganzen Leben – und somit auch schon am Beginn seines Lebens – ist sichtbar geworden, dass er ein ganz besonderer Mensch war.
- Sein Tod am Kreuz war eigentlich sinnlos, doch selbst da muss Gott seine Hand noch im Spiel gehabt haben.
Die Wahrheit steckt nicht allein in den historisch nachweisbaren Fakten; sie umfasst all das, was sich im Leben und Erleben eines Menschen abspielt und für ihn von Bedeutung ist.
Jesus Christus – Fake oder Faktum
Nomen est omen («Der Name ist Zeichen»)
In seinem Namen verbinden sich beispielhaft Fakten und ihre (Be-)Deutung; «Jesus Christus» ist mehr als jener Mann namens Jesus, der aus Nazareth stammte. Mit dem Messiastitel Christus («der Gesalbte») haben Menschen ursprünglich ein Glaubensbekenntnis gegeben. Dieser Titel, der inzwischen gleichsam Teil seines Namens geworden ist, sagt etwas darüber aus, wie Jesus gelebt hat und wie er von seinen Zeitgenoss:innen wahrgenommen worden ist. Dass im Namen «Jesus Christus» nicht nur der Mensch vorkommt, sondern auch der Mythos mitschwingt, muss nicht als Veruntreuung der Überlieferung gelten. Welche Person ist nicht mehr, als es ihr Name besagt?