Die Faszination des Pilgerns auf dem Jakobsweg

«Steil führt der Anstieg von Einsiedeln kommend hinter Alpthal bergan. Der Schweiss fliesst in Strömen. Der ungewohnte Rucksack drückt. Ab etwa 1200 m N.N. liegt noch Schnee. Jeder Schritt ist nun doppelt anstrengend. Jedes mal sinken wir bis zu den Knien ein. Immer wieder schaue ich zu den Mythengipfeln hinauf. Und dann sind wir endlich auf dem Haggenegg, dem mit 1414 m N.N. höchsten Übergang des Jakobsweges auf Schweizer Boden. Ein wunderbarer Rundblick eröffnet sich uns. Doch es bleibt nur eine kurze Rast, denn der Tiefschnee hat viel Zeit gekostet. Mit dem Natel kündigen wir die Verspätung unserer Firmgruppe in der Pilgerherberge des Klosters Ingenbohl an.»

Ein riesiges Netz von Jakobswegen durchzieht ganz Europa, die sich nach und nach alle bündeln mit dem einen Ziel: Santiago de Compostela an der spanischen Atlantikküste. Millionen von Menschen sind diese Wege während über 1000 Jahren gegangen, seitdem im 9. Jahrhundert ein Eremit namens Pelagius ein Grab entdeckte, das er dem Apostel Jakobus dem Älteren zuwies. Die Pilgerreise nach Santiago de Compostela gehört neben Jerusalem und Rom zu den drei «grossen Wallfahrten» der europäischen Christentumsgeschichte. Der Weg (spanisch camino), wie er schlicht genannt wird, ist weit mehr als ein Wanderweg. Mit den einfachen Dorfkirchen und den faszinierenden Kathedralen, den Klöstern, Pilgerherbergen und Städten stellt er ein beredtes Zeugnis von christlichem Glauben und christlicher Kultur in Europa dar. Jeder Stein erzählt von den Menschen und ihrer spirituellen Suche. Auch heute zieht der Jakobsweg jährlich Viele in seinen Bann, ob Frau oder Mann, ob jung oder alt. Sie begeben sich auf den uralten traditionellen Weg, und doch ist er neu. Denn jeder und jede macht seinen/ ihren Weg mit den je eigenen Erfahrungen.

Sich auf den «Weg» machen ist der Beginn eines ganzheitlichen Abenteuers. Ich breche auf und gleichzeitig aus. Vieles lasse ich zurück: Alltag, Arbeit, gewohnte Beziehungen, selbstverständliche Bequemlichkeiten. Zu Fuss gehe ich los in einer Zeit des beschleunigten Lebens. Pilgern bedeutet eine Entscheidung für die «Entschleunigung», für die Kraft der Langsamkeit und die Intensität des Seins hier und jetzt. Bei allem, was ich zurücklasse, mich selbst nehme ich mit. Ich werde mich mit mir selbst auseinandersetzen müssen: mit meinen Freuden und Ängsten, meinen Möglichkeiten und Grenzen, körperlich, geistig und seelisch.

Wohin geht die Reise? Nicht nur nach Santiago, sondern auch zu mir selbst, zu vielen Begegnungen mit der Natur, mit Menschen und Orten. Im Letzten zu Gott: «Im Menschen lebt eine Sehnsucht, die ihn hinaustreibt…. Im Grunde seines Herzens sucht er ruhelos den ganz anderen, und alle Wege, zu denen der Mensch aufbricht, zeigen ihm an, dass sein ganzes Leben ein Weg ist, ein Pilgerweg zu Gott.» (Augustinus 354-430)

Bernhard Lindner

 

Beten mit den Füssen – Bildung und Propstei – Römisch-Katholische Kirche im Aargau

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